Rechtsradikale versuchen bereits, den Berliner Anschlag für ihre Propaganda zu nutzen

Berlin Attack

Der Täter ist noch nicht gefasst, das Motiv nicht endgültig geklärt. NPD, AfD und neurechte Gruppen versuchen aber bereits, politisches Kapital aus dem Anschlag gegen einen Berliner Weihnachtsmarkt zu ziehen. Dabei erhalten sie sogar Unterstützung aus dem Ausland.

Still ist es vor der Gedächtniskirche. Nur einige Meter entfernt, auf der Straße und in den schicken Geschäften herrscht zwar die übliche Westberliner Betriebsamkeit. Doch auf dem Kirchvorplatz halten die Menschen für einen Moment inne. Ein Ehepaar filmt das Meer von Blumen und Kränzen, Kinder schauen mit großen Augen. „Berlin hält zusammen“, hat jemand auf ein Schild geschrieben, „Wir lassen uns unsere Freiheit nicht nehmen“ steht auf einem weiteren. Eine Muslima mit Kopftuch zündet eine Kerze an und stellt sie zu den anderen.

Die Ruine der Gedächtniskirche wird von Scheinwerfern angestrahlt. Das 1943 zerstörte Gebäude steht als Symbol für die Zähigkeit der Berliner, deren Stadt im vergangenen Jahrhundert zerbombt, blockiert und geteilt wurde. Die Bevölkerung hat es ertragen. Sie verbarg Angst und Kummer hinter gespielter Gelassenheit und schroffem Galgenhumor. Und beinahe ist es, als sei diese Einstellung hier und heute zu spüren, in der kalten Nacht auf dem Breitscheidplatz. Als habe sich die Sturheit tief ins kollektive Bewusstsein eingegraben und nur darauf gewartet, wieder gebraucht zu werden.

Hetzer wollen den Anschlag instrumentalisieren

Einige Fußminuten entfernt, am Hardenbergplatz unmittelbar vor dem Bahnhof Zoo, hat sich die NPD in Stellung gebracht. Laut Polizei sind etwa 130 Neonazis aufmarschiert. Hinter einem Cordon von Einsatzfahrzeugen sind sie kaum zu sehen. Der Redner schimpft über Angela Merkel und die „Willkommensklatscher“, die seiner Ansicht nach das deutsche Volk zerstören wollen. Dann stimmt er – allen Ernstes – „Stille Nacht, Heilige Nacht“ an. Aber nur „die erste, die zweite und die sechste Strophe“. Der nationale Widerstand brummt das Weihnachtslied mit groteskem Pathos. „Nazis raus!“ rufen etwa 800 Gegendemonstranten auf der anderen Seite der Polizeikette und halten Schilder mit roten Herzen.

Vor dem Bundeskanzleramt in Mitte hat sich unterdessen Prominenz aus AfD und neurechter Szene versammelt. Nur eine Handvoll linker Gegendemonstranten versucht, den Ablauf mit Zwischenrufen zu stören. Björn Höcke ist gekommen und Alexander Gauland. Ebenso Jürgen Elsässer, der deutschnationale Einpeitscher und Chefredakteur des Putin-freundlichen Compact–Magazins. In seiner Nähe steht Götz Kubitschek. Der Verleger veranstaltet auf seinem Rittergut in Schnellroda regelmäßig Kongresse, bei denen die neurechte Szene zusammenkommt. Mit Elsässer hat er eine Initiative namens „Ein Prozent“ ins Leben gerufen, die sie zur Sammelbewegung ausbauen wollen.

Mit Gott und Putin gegen Flüchtlinge

TV-Teams schieben sich zwischen den etwa 300 Demonstranten hindurch und machen Interviews. Sie kommen vom russischen Fernsehen. Kanal 1 und Ruptly berichten regelmäßig über rechte Demos in Berlin, stellen noch die kleinste Ansammlung als breiten Bürgerprotest dar. Auch Heinrich Groth befindet sich unter den Demonstranten, der Chef einer rechten Vereinigung von Russlanddeutschen. Groth verbreitete Anfang des Jahres die Falschmeldung von dem angeblich durch Flüchtlinge vergewaltigten Mädchen „Lisa“. Die Kreml-Propaganda wollte sich damit in die deutsche Politik mischen.

Redebeiträge gibt es nicht, stattdessen predigt ein angeblicher Pfarrer, die Deutschen hätten ein „Recht auf Widerstand“ gegen Einwanderung. Sie sollten nicht die andere Wange hinhalten, sondern gegen die da oben kämpfen. Ein seltsames Evangelium, aus dem Thomas Wawerka zitiert. Wie der Lisa-Fall, und überhaupt vieles hier, stellt sich auch der Pfarrer als Mogelpackung heraus. Die evangelische Kirche hat ihn längst entlassen, vermutlich wegen seiner rechten Ansichten. Doch die Männerrunde vor dem Kanzleramt hört Wawerkas weihevollen Hass-Worten daher nur umso lieber zu.

Mit von der Partie: die Identiären

Die Veranstaltung ist zu Ende. Eine Gruppe von geschniegelten jungen Leuten zieht weiter. Die „Identitären“ haben sich an der CDU-Zentrale verabredet. Diese völkische Bewegung ist in Frankreich entstanden und sieht sich als eine Art Avantgarde im Kampf für ein „Europa der Vaterländer“. Ihre Anhänger sind meist Studenten. Die Identitären glauben an eine krude Verschwörungstheorie, die behauptet, die Elite wolle „das Volk“ durch Flüchtlinge ersetzen Die Identitären imitieren Aktionsformen der radikalen Linken. Vor dem Konrad-Adenauer-Haus bilden sie eine Sitzblockade, die von der Berliner Polizei gewohnt schnell und unsanft geräumt wird.

Auf Jürgen Elsässers Facebook-Seite schauen sich etwa 3.000 Zuschauer einen Livestream von der illegalen Aktion der Identitären an. Von der gegenüberliegenden Straßenseite kommentieren die älteren Herren der Szene den Aktionismus des Nachwuchses. Götz Kubitschek posiert in einem grünen Armeeanorak, als würde er sich bereits um eine Stellung als Führer der nationalen Revolution bewerben. Dann sagt Siegfried Daebritz kurz noch Tschüss in die Kamera, er muss wieder nach Dresden. Der auch „Pegida-Siggi“ genannte Sicherheitsunternehmer sorgt mit einer Truppe von Hooligans regelmäßig für den „Schutz“ von Pegida-Demos.

Die Rechten sehen ihre Chance

Die beiden rechten Demos hatten nur sehr geringen Zulauf. Das ist bemerkenswert vor allem in Anbetracht der massiven Hetze, die momentan auf Twitter kursiert, etwa unter den Hashtag #berlinattack. Bei den Berlinern vor Ort trafen die Demonstrationen nicht auf positive Resonanz, sondern auf Ablehnung, sofern sie überhaupt wahrgenommen wurde. Von der Mahnwache und der Sitzblockade erfuhren die meisten Menschen erst aus der Presse. Doch das Auftreten der rechten Aktivisten verrät ein neues Selbstbewusstsein. Die Szene hat ihre Hausaufgaben gemacht.

Im September bereits war bekannt geworden, dass der Bundesvorstand der AfD „professionelle Plakate/Banner“ mit Slogans wie „DANKE, FRAU MERKEL!“ erstellen wollte, um sie im Falle eines Anschlags sofort einsetzen zu können. Auch Kubitschek, Elsässer und die Identitären feuern aus allen Propaganda-Rohren. Sie versuchen, die Deutungshoheit über die Ereignisse zu gewinnen. Die Einwanderungspolitik habe den Terror ermöglicht, behaupten sie kurzerhand und ohne Beweise. Von den russischen Staatsmedien erhalten sie dabei Unterstützung. Auch die hoffen, die Tragödie könne Einfluss haben auf die Bundestagswahl im kommenden Jahr. Damit könnten sie Recht behalten.

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Christoph M. Kluge
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