Berlin Rebel High School

Über 40 Jahre Schulalternative

Deutschlehrer Klaus beim Interview im Berliner Clash – der Bildermacher ist Lehrer und kein Fotograf, also hey.

Am 11. Mai 2017 startet die Film-Dokumentation Berlin Rebel High School bundesweit in den Kinos. Da wir in unseren Reihen selbst einen Lehrer in der Erwachsenenbildung haben, führten wir kein Interview mit dem Regisseur, sondern mit Lehrer Klaus.

Die Stuttgarter Punkband Kleinvieh sang einst: „In der Schule lernst du für das Leben. / Nach oben streben und nach unten treten.“ Dies war gut 15 Jahre vor Erscheinen dieser sehenswerten Dokumentation. Hätte sie diese hier dokumentierte, damals bereits existierende Schule gekannt (ach du geliebte schwäbische Provinz!), wären diese Zeilen vielleicht anders formuliert worden. Ein Interview mit einem Deutschlehrer einer alternativen Schule.

In Deutschland verlassen 5,5% eines Jahrgangs die Schule ohne Abschluss. Die mit dem deutschen Schulpreis ausgezeichnete Schule für Erwachsenenbildung (SFE) in Berlin sagt diesem Fakt den Kampf an. Der Feind aus ihrer Sicht: Leistungsdruck und Konkurrenz. Adam Smith dreht sich im Grabe um. Regisseur Alexander Kleider, ehemaliger Schüler der SFE, hat hierzu die sehenswerte Dokumentation „Berlin Rebel High School“ erarbeitet, welche junge Erwachsene in den Zwanzigern auf ihrem Weg zum Abitur begleitet. Dieser Weg verzichtet auf Noten, autoritäre Hierarchien und setzt auf die Neugier der SchülerInnen.

Der prämierte, professionelle, kurzweilige Film verzichtet auf einen Sprecher, das bedeutet hier kommen ausschließlich die Protagonisten zu Wort und kreieren die Grundstimmung des Films, welcher somit objektiv versucht, die Lebenswirklichkeit der Menschen abzubilden. Diese Grundstimmung ist lebensbejahend sowie in Teilen revolutionär. LehrerInnen und SchülerInnen berichten ehrlich und dies stellenweise durchaus kontrovers über ihr Erleben an dieser alternativen Schule. Kontrovers möchte die SFE auch sein und hier liegt die Stärke des Films. Wir alle kennen das Sujet Schule und können somit auch alle zu diesem Thema etwas sagen: Schule als Produkt unserer Gesellschaft und die Gesellschaft als Produkt unserer Schulen schaffen maßgeblich unsere Realität. Ich selbst habe bereits im Vorfeld viel diskutiert. Ich muss gestehen, ich bin ein „Notenfreund“, verwende auch schon mal den klassischen Frontalunterricht (Hängt mich!), während meine Frau reformpädagogisch orientiert ist. Gerade schreit sie von hinten, Schule sei der „Stiftung Warentest für Menschen“. Hilfe, ich habe einen Hippie geheiratet. Dennoch finde ich den Film und somit die SFE spannend sowie ihre Ansätze interessant und könnte mir auch vorstellen, nach ihnen zu arbeiten. Bin mir aber nicht ganz sicher, ob diese universell anwendbar sind, da es ein Höchstmaß an Verantwortung und Selbstbestimmung von SchülerInnen und LehrerInnen verlangt, und ich dies nicht jeder/jedem SchülerIn, aber auch erst recht nicht jeder/jedem LehrerIn zutraue. Ich halte es doch leider zunehmend mit Thomas Hobbes und den Sex Pistols: homo homini lupus est, bzw. there is no future!

Das offizielle Kinoplakat

Die begleiteten SchülerInnen rekrutieren sich bundesweit und haben negative Erfahrungen im Bildungssystem, wie bspw. Mobbing und Rassismus, gemacht. Berichtet wird hier von unfähigen LehrerInnen, welche wir eben auch alle kennen (genauso wie gute – die durchschnittlichen LehrerInnen bleiben nicht im Gedächtnis), die sich sogar an diesen Prozessen beteiligen, also dem Produkt und der Basis der kapitalistischen Gesellschaft. Das Gegenmodell bildet die selbstverwaltete SFE. Hier packen LehrerInnen und SchülerInnen auch gemeinsam an, wenn es um die Reinigung des im Übrigen sehr schönen Gebäudes geht. Es gibt Vollversammlungen, in denen basisdemokratisch entschieden wird. Wir alle wissen, dass dies sehr bereichernd, aber auch zermürbend sein kann. So wird darauf verwiesen, dass Klatschen im Plenum zu aggressiv sei und man doch stattdessen seiner Zustimmung durch rhythmisch kreisende Handbewegungen Ausdruck verleihen soll. Die ZuschauerInnen lernen gemeinsam mit den SchülerInnen eines Jahrgangs diese Regeln und darüber hinaus natürlich auch mehr über die SchülerInnen, sodass man gegen Ende des Films – die Prüfungsergebnisse werden verteilt – mitfiebert und fast jeder und jedem das Einser-Abitur wünscht. Der Film ist aufgeteilt in die Abschnitte Begeisterung, Ernüchterung und Produktivität, und das ist auch das, was der Zuschauer erwarten darf.

Pädagogisch wird dies unterfüttert von den O-Tönen der Lehrkräfte, vor allem von Deutschlehrer Klaus – ein Idealist mit Einfühlungsvermögen, fachlicher Stärke und Engagement. Wenn ich auch nicht zum Sitzkreis neige, kann ich es mir nur wünschen, in gleicher Weise nach 40 Jahren Unterricht nach wie vor so begeistert und begeisternd vor der Klasse zu stehen. Ich hatte die Gelegenheit im Clash, in unmittelbarer Nähe der Schule in Kreuzberg, mit Klaus zu sprechen. Er hat sich zwei Stunden für Polytox Zeit genommen und ich empfand das Gespräch für mich sehr bereichernd. Ich hoffe, ich kann es auch in gleicher Weise für euch wiedergeben, und wünsche mir inständig eine Diskussion über Schule und Bildungspolitik im Kommentarbereich; gerne kontrovers. Weiterhin macht sich die Schule Gedanken darüber, wie man diese finanziell besser absichern kann. Also los ihr Marketing-Jura-Finanz-Politik-Punker: Wenn ihr fundierte Ideen habt, dann meldet euch bei ihnen! Sie sind 100% unterstützenswert und haben eure Solidarität verdient. Während ich diese Buchstaben in die Tastatur hämmere, überlege ich in jedem Fall schon mal, ob ich am Ende vielleicht doch den Leviathan etwas weiter nach hinten in das Bücherregal stelle.

Hallo, Klaus. Schön, dass du dir Zeit nimmst. Bist du mit dem Film zufrieden?

Ja, ich mag ihn sehr. Er bewegt Emotionen, auch bei mir. Manchmal war ich auch den Tränen nah.

Bildet der Film die Realität ab? Haben die SchülerInnen und LehrerInnen sich realistisch benommen, oder war es dann doch wie bei einem Unterrichtsbesuch durch den Schulrat?

Ja, er bildet die Wirklichkeit ab bzw. wie die Schule im besten Fall sein kann. Der Film ist ja auch nicht unkritisch. Es gibt Momente, da sieht man: die Leute sind manchmal etwas chaotisch, z.B. sind nach den Ferien ja auch nicht immer alle gleich da. Ich hatte Bauchweh, da wir keine medienaffine Schule sind, jedoch waren der Regisseur und der Tonmann an der SFE meine Schüler und so habe ich ihnen vertraut. Damals unterrichtete ich auch Kunst mit dem Schwerpunkt Film. Der Regisseur wusste also um die Strukturen der Schule und so konnte sich über die Jahre der Entstehung des Films eine Vertrauensbasis aufbauen. Im Laufe der Zeit hat man dann die Anwesenheit des Filmteams vergessen.

Wie kam es zur Auswahl der SchülerInnen für den Film?

Der Regisseur wollte ein Langzeitprojekt machen und die SchülerInnen über mehrere Jahre begleiten. Man musste also eine der Anfangsklassen auswählen. Zwei der SchülerInnen haben bei mir bereits die Mittlere Reife gemacht. Das ist für mich ein Glücksgefühl. Manche SchülerInnen kommen an die Schule ohne Zeugnis, leben teilweise auf der Straße, und bleiben dann, weil es ihnen so gut gefallen hat und gehen in die Abiturklasse.

Die SchülerInnen, die begleitet werden, sind im Regelschulsystem gescheitert. Ist es eine Voraussetzung, um die Vorzüge eurer Schule zu erkennen?

Es gibt Leute, die haben bewusst mit den staatlichen Schulen gebrochen. Das sind keine Loser, denn sie wollen an eine alternative Schule. Viele sind aber eben auch vom staatlichen Schulsystem verjagt worden. Ich frage mich manchmal, wie es sein kann, dass sie kein Abitur haben? Wir stellen jedoch nicht den therapeutischen Aspekt in den Vordergrund, denn die Leute wollen nicht schon wieder ein Objekt einer Fürsorge sein.

Lena hat ihren eigenen Kopf, und setzt diesen auch gerne ein.

Gibt es SchülerInnen, die in eine reine Konsumhaltung verfallen? Wie wird damit umgegangen?

Ja, die gibt es. Man muss sich dem verweigern. Manche sind es nicht gewohnt, sich nicht konsumierend zu verhalten, aber viele erkennt man nach zwei Jahren gar nicht wieder. Die Schule ist insofern auch eine Lehranstalt für Sozialverhalten, aber man kann natürlich auch nicht alle Seelen retten.

Wie finanzieren die SchülerInnen denn ihr Leben?

Häufig reicht das BAföG nicht und sie müssen nebenher jobben. Das bedeutet, dass sie manchmal Schwierigkeiten haben zu kommen und zusätzlich belastet sind. Das Leben in Berlin für junge Leute ist teurer und damit schwieriger geworden. Man kann nicht mehr auf besetzte Häuserstrukturen zurückgreifen; ein Zimmer kostet zwischen 300 und 400 Euro. Es wirkt sich auch dahingehend aus, dass wir kleiner geworden sind.

Ist das fortgeschrittene Alter der SchülerInnen wichtig? Sind eure Ansätze auch mit jungen Jugendlichen durchführbar?

Der große Unterschied ist, dass du bei jüngeren SchülerInnen mit Eltern zu tun hast und es eben alle mittragen müssen. Ich glaube aber, dass der Grundspirit sich übertragen lässt.

Gibt es SchülerInnen, welche nicht für die SFE geeignet sind?

Es gibt Leute, die sagen, sie brauchen eine starke Hand und Führung. Es ist ihnen zu frei. Auf der anderen Seite gibt es aber eben genau die Leute, welche so vom normalen Schulalltag traumatisiert sind, dass sie auf gar keinen Fall etwas brauchen, das sie an die normale Schule erinnert. Für sie ist die Schule genau das Richtige.

Ein wirklich nettes Interieur

Ich mag eure Raumgestaltung sowie die antifaschistischen Aufkleber. Gibt es bei euch auch Fälle von Rassismus, Sexismus oder Homophobie?

Wir machen ja vorher Infotage, so wissen die SchülerInnen, worauf sie sich einlassen. Wir haben SchülerInnen aus den wenigen verbliebenen Hausprojekten Berlins oder bspw. aus der Refugee-Bewegung. Wir stimmen über Stellungnahmen der Schule vor Demonstrationen ab. Sie haben großteils also eine linke Ausrichtung, wobei wir auch immer SchülerInnen haben, die sich nicht zu diesem Spektrum zählen. Es steht aber auch deutlich im Schulvertrag, dass Rassismus, Homophobie oder Sexismus nicht erlaubt sind und gegebenenfalls zum Schulverweis führen können.

Sind auch schon LehrerInnen bei euch gescheitert?

Ja, manche Lehrer sind abgewählt worden, bei denen ich es auch bedauert habe. In den 70er Jahren tobte der politische Aberwitz. Wer nicht so aussah oder sprach wie ein alternative_r LehrerIn, konnte manchmal das eigene Wissen nicht vermitteln. Immer wieder sind auch Leute in den normalen Schulbetrieb abgewandert. Ich musste aber auch nebenbei andere Sachen machen, da das Geld nicht reichte – ich wollte das aber auch. Viele LehrerInnen, die nur die Schule haben, bekommen ein Burnout. Man soll es aber auch nicht heroisieren: Der LehrerInnenberuf war mit vielen Entbehrungen versehen. Die Schule, die fast immer kein Geld hatte, so auch die LehrerInnen, hat sich immer so ein bisschen im Prekariat befunden. Das war bitter und man hatte manchmal das Gefühl, dass diese wichtige gesellschaftliche Arbeit nicht ausreichend honoriert wurde. Der Film und der Schulpreis sind jetzt eine späte Genugtuung. Wir haben uns aber auch selbst nie aus Angst vor Spitzeln und Verfassungsschützern in das Flashlight gedrängt (Ironischer Unterton). Als wir den Schulpreis bekamen und Steinmeier kam, gab es auch Debatten, wie wir damit umgehen sollen.

Mein Eindruck nach dem Film: Es ist wichtig, dass die SchülerInnen sich diese Schule ausgesucht haben. Nicht jede_r SchülerIn kann das. Was kann also eine Regelschule von der SFE lernen?

Man muss den SchülerInnen mehr zutrauen. Sie brauchen mehr Entscheidungsfreiheit, Verantwortlichkeit und Autonomie. Es ist zu überbürokratisiert. Ich habe auf den Elternabenden meiner Kinder gesehen, wie sehr sich dort herumgeschlagen wird mit Disziplinfragen und wie man die SchülerInnen bestrafen kann. Ich fragte mich, wie ist das möglich? Ich habe es da teilweise sehr schwer ausgehalten. Obwohl ich auch sehe, dass sich einzelne LehrerInnen unglaubliche Mühe geben.

Gibt es bei dir auch ganz klassischen Frontalunterricht?

Ja, ich halte das auch nicht für schlimm. Wir hatten LehrerInnen, die wollten sich abschaffen. Man ist aber nun mal LehrerIn – dann soll man das auch akzeptieren und nicht versuchen, sich überflüssig zu machen. Mir ist es unerträglich, wenn zehn Minuten Schweigen ist. Manchmal zeige ich auch Filme. Das Visuelle ist heute ein wichtiges Medium. Manche SchülerInnen bekommst du nicht dazu, einen ganzen Roman zu lesen. Ich habe gerade einer MSA-Klasse die Verfilmung von „Homo Faber“ gezeigt und das hat einzelne SchülerInnen, welche keine literarische Bildung hatten, dazu motiviert, daraus ihr mündliches Thema zu machen.

Einen klaren Kopf bekommt man am Besten an der frischen Luft Lena büffelt mit ihrem Lehrer Klaus im Grünen.

Es gibt keine Noten. Kommt dann nicht doch immer die Frage, welche Note das denn jetzt wäre?

Ja, das tun sie zum Teil, aber wir verweigern uns. Es ist nicht gut, Leute, die zu früh mit Noten im staatlichen Schulsystem zurückgestoßen wurden, wieder bei uns damit zu konfrontieren. Ich finde, Noten sagen sehr wenig aus über die wirklichen Fähigkeiten und legen zu früh jemanden fest. Ich habe fest gestellt, dass manche_r die eigenen Fähigkeiten nicht in der Prüfung entfaltet, sondern erst zwei Jahre versetzt. Sie blühen dann richtig auf. Wir haben aber auch SchülerInnen, welche bei der externen Prüfung mit 1,4 abschließen, die dann für Stipendien empfohlen werden und die akademische Laufbahn einschlagen, obwohl die Eltern bildungsfern sind. Trotz aller Pädagogikbücher weiß man manchmal nicht, auf welchen Knopf man bei den SchülerInnen drücken muss, damit etwas raus kommt.

Im Film sagst du, nicht mehr an eine staatliche Schule zu wollen. Gibt es gar Nichts, was du vermisst?

Nein, die SFE ist mein Wohlfühlort und mein Jackett geworden. Das war aber nicht immer so. Ich habe auch gehadert. Das ist aber, glaube ich, normal für einen Lehrer, der 40 Jahre unterrichtet.

Du sprichst von der Schule als geschützten Raum. Wie sind die Langzeiterfahrungen, wenn die SchülerInnen wieder in die Ellbogengesellschaft entlassen werden?

Die Schule stärkt durch das Wegnehmen von Druck merkwürdigerweise die Stressfähigkeit, da unsere Schule komplexe Fähigkeiten erfordert. Man muss als Klasse Entscheidungen treffen und erlernt Ermessensprozesse, wenn es bspw. darum geht, dass ein Mitschüler einen Pullover von den Gebirgsjägern trägt.

Leistungsdruck adé Mimy, Alex, Lena und Klaus, jeder hat eine Stimme, denn hier wird alles demokratisch und eigenverantwortlich entschieden.

Diese Schule passt nach Berlin. Auch nach Stuttgart und Dresden?

Man sieht im Film, die Schule ist in einer Großstadt. Es ist also ein urbanes Gefühl und ich denke, es ist auch in anderen Städten vorstellbar. Die Grundidee ist ja, dass SchülerInnen ihre eigene Schule machen. Da ist Demokratie nicht Unterrichtsfach, sondern gelebte Praxis. Die SchülerInnen entscheiden alles, werden nebenbei Verwaltungs-, FinanzexpertenInnen oder MediatorInnen.

Im Film blickst du auf deine Zeit in den 68ern zurück. Ich vermute, dass du schon lange an der SFE unterrichtest. Konntest du Unterschiede in den SchülerInnengenerationen feststellen? Waren frühere Generationen politischer?

Die Schule ist eines der wenigen Alternativprojekte in Berlin, welches seit den 70ern funktioniert. Ich kam 1973 dazu. Man darf nicht vergessen, wer damals Ende 20 war, ist noch im Krieg geboren. Sie waren Adenauer-sozialisiert, also in einem finsteren Drei-Klassen-Schulsystem. Meine Eltern mussten für mich auch noch Schulgeld bezahlen, als ich zum Gymnasium ging. Sie waren fast alle in irgendwelchen K-Gruppen. Das hatte aber auch die entsprechenden negativen Folgen, sodass sie sich gegenseitig in die Wolle bekommen haben. Es gab damals unterschiedliche Fraktionen, die Wohngemeinschaften, Freundschaften und ganze Klassen gespalten haben. Der Unterschied zu heute ist, dass damals alle SchülerInnen bereits eine Ausbildung mit mehrjähriger Erfahrung hatten. Sie wollten aber mehr. Sie wollten ihr Leben und die Gesellschaft verbessern. Sie wollten auch die Lehrinhalte mitbestimmen. Die Basics, die bis heute gelten, waren: Kein Direktor, keine Noten, keine Zeugnisse und Versetzung. Man hat damals auch bei den LehrerInnen sehr auf einen proletarischen Hintergrund geachtet. Heute ist der überwiegende Teil der SchülerInnen GymnasiumsabbrecherIn. Das zeigt aber auch, dass langsam in der Gesellschaft die Arbeit verschwindet. Jemand, der eine Ausbildung hat, überlegt sich heute drei Mal, ob er diese fallen lässt, um nochmal das Abitur zu machen.

Ich verstehe die SFE als eine Kampfansage an Konkurrenzgesellschaft und Leistungsdruck. Ist das Ziel Abitur als Symbol für Konkurrenz und Leistung nicht ein Widerspruch?

Ja, das ist richtig. Es war aber auch früher so, dass das Abitur nicht das erste Ziel war. Das hat sich sicherlich geändert, aber wir haben damals gesagt, man soll nicht Abi-geil sein, sondern gesellschaftliche und soziale Fähigkeiten erwerben. Das Abitur bekommt man dann als Zuschlag oben drauf. Es ist uns wichtig, dass man diese Papiere ohne Leistungsdruck und auf solidarische Art und Weise erwirbt. Man soll sich auch immer der Fragwürdigkeit dieser Qualifikation bewusst sein. Es gibt auch Leute, die an der Schule viel gelernt haben, aber ohne Abschluss die Schule wieder verlassen haben. Ich finde es aber auch gut, wenn jemand viele Brüche im Leben hatte und dann auch mal etwas zu Ende bringt. Ich gebe zu, dass es in sich widersprüchlich ist: Auf der einen Seite umgibt man sich mit dieser großen Freiheit und auf der anderen Seite unterwirft man sich einer externen Prüfung. Ich bin auch im Vorstand der Schule und da muss man dann etwas persönlich verbindlich unterschreiben, da wir dem Vereinsrecht unterliegen, obwohl wir basisdemokratisch sind. Das ist ja auch widersprüchlich. Man muss dann aber vorher diskutieren, wobei die Schule auf die Selbstregulierungskräfte hofft. In den Räumen ist über Jahre irgendetwas positiv gespeichert, was sich letzten Endes auch positiv auswirkt. Man muss natürlich Kompromisse machen; man muss sie aushalten.

Klick mich groß

Nach Aristoteles: Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen. Du sagst im Film, jeder ist neugierig. Ist das so?

Es gibt in jedem Menschen ein Neugierpotenzial, aber es muss geweckt werden. Viele brennen vor Neugierde, während sie bei anderen eingeschlafen ist. Dann muss man versuchen, sie wieder zu wecken. Die Leute sollen die Stadt wahrnehmen als Ort, in dem man lernen kann. Sie sollen mit ihrem SchülerInnen-Ausweis in die Museen und Theater. Ich habe aber mittlerweile vieles aus dem klassischen Bildungsbegriff übernommen, da ich mich ärgere, dass es vieles gibt, was die Leute nicht wissen. Wir waren jetzt im Theater und einige haben schon gesagt: das ist jetzt ihr Wohnzimmer. Sie lernen Dinge das erste Mal kennen, die für mich als 18-Jährigen schon eine Bedeutung hatten, wie bspw. Marat/Sade von Peter Weiss. Das Theater hat aber die Leute unglaublich beeindruckt und darüber habe ich mich gefreut, genauso wie wenn sie neue Gebiete entdecken, die sie dann über die Schule hinaus verfolgen. Aber ich lerne auch viel von den SchülerInnen, da sie zum Teil ganz andere Sachen lesen.

Abschließend nutze ich meine Chance beim Germanisten. Keine Deutschprüfung ohne welche Literatur?

Ich bin sozialisiert mit Brecht. Einer meiner großen Lieblingsautoren ist Philip Roth, also nicht mal ein deutscher Autor. Ich versuche den SchülerInnen generell ein Gefühl für Lyrik und Theater zu vermitteln.

Brecht bei Klaus im Garten

Vielen Dank für dieses spannende Interview!

 


Infos:

SFE – Schule für Erwachsenenbildung

Mensch Klaus

Buch Klaus

Renate Gerhardt Verlag

Film Klaus

Taube
Letzte Artikel von Taube (Alle anzeigen)
Hat Dir der Beitrag gefallen? Dann tritt unserem SUPPORTERS CLUB bei und unterstütze uns bei Patreon!
Become a patron at Patreon!

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*