
Ich habe Schleimkeim das erste Mal Mitte der 1990er-Jahre gehört. Jemand aus unserer Punkclique, die sich regelmäßig am Luisenplatz traf, brachte eines Tages ein Tape mit Schleimkeim auf der einen und Müllstation auf der anderen Seite mit. Punk aus der DDR und den neuen Bundesländern stand damals bei uns hoch im Kurs, klang dieser doch deutlich ungeschliffener, roher und auch authentischer als die professionellen Schlachtrufe BRD-Deutschpunk-Produktionen, die uns viel zu glatt geleckt klangen. Und Schleimkeim konnte man vieles nachsagen, aber nicht, dass die Band glatt geleckt klang.
Doch Schleimkeim hoben sich auch von vielen anderen DDR-Punk- oder Bands aus den neuen Bundesländern ab. Das waren zum einen die Texte, die zwar direkt und unmissverständlich waren, es aber trotzdem schafften, ohne die gängigen Politparolen auszukommen, die ich damals von westdeutschen Punkbands kannte und gleichzeitig ehrlich, authentisch und null aufgesetzt wirkten. Und natürlich die Musik: Die zwar Punk hoch zehn, aber im Vergleich zu vielen anderen Bands schälte sich aus dem Gepolter und Lärm eingängige Melodien heraus, die sofort hängen blieben und so Ohrwürmer für die Ewigkeit schufen. Noch heute, mehr als 25 Jahre später, ertappe ich mich immer mal wieder dabei, wie ich gedankenverloren einen Schleimkeim-Song vor mich her summe oder mir in bestimmten Situationen eine Schleimkeim-Textzeile ins Hirn schießt.
Scheimkeim: Die beste und bekannteste DDR-Punkband
Schleimkeim sind ohne Zweifel die beste und bekannteste Punkband der DDR gewesen, und auch im gesamtdeutschen Kontext muss die Band keinen Vergleich mit Szenelegenden wie Slime, Toxoplasma oder Daily Terror scheuen. Schleimkeim waren eine der besten und wichtigsten deutschen Punkbands!
Die Geschichte von Schleimkeim ist aber auch eine sehr tragische Geschichte. Denn in einem diktatorischen Staat, in dem Paranoia Staatsraison ist und diese auf die Bürger:innen weitergegeben wurde und ein Abweichen von der Norm nicht nur gesellschaftliche Ächtung bedeuten konnte, sondern Isolationshaft, Folter und Gefängnisaufenthalt, wurde man als Punk wirklich als Staatsfeind angesehen. Und Schleimkeim-Mastermind Otze war oft im DDR-Knast. Und später auch im BRD-Knast. Gepaart mit seiner Alkohol- und Drogenabhängigkeit war es fast schon zwangsläufig, dass dies nicht spurlos an ihm und seiner Psyche vorübergehen würde. Seinem Vater spaltete er schließlich mit einer Axt den Schädel und verbrachte die letzten Jahre seines Lebens in einer geschlossenen Anstalt. Diagnose Schizophrenie, in der er schließlich starb. Die einen sagen, es wäre nachgeholfen worden, andere glauben der offiziellen Version.
Das Leben schreibt die besten Geschichten
Ein Leben wie ein Film oder ein Roman.
Das dachte auch Abo Alsleben, der, fasziniert von Otzes Lebensgeschichte, schließlich einen Roman daraus machte. Die Geschichte, die er vorzüglich erzählt, hangelt sich an den bekannten biografischen Eckpunkten entlang, nimmt sich aber die Freiheiten, Handlungen anzupassen oder Leerstellen literarisch zu füllen. Dafür ist Abo Alsleben sehr akribisch und penibel vorgegangen. Im Anhang listet er seine Quellen auf, darunter zahlreiche Verhörprotokolle der Stasi oder Volkspolizei, deren Dialoge teils 1:1 sich im Buch wiederfinden.
“Der letzte Punk” ist also kein biografisches Buch über Otze, sondern ein literarisches, das die Biografie als Ausgangspunkt nimmt, um daraus eine eigene Geschichte zu schreiben. Und das gelingt Abo Alsleben ausgezeichnet. Der knapp 400 Seiten starke Roman lässt sich gut weglesen. Der Hauptcharakter Otze wirkt glaubhaft (unabhängig davon, ob die reale Figur so war) und die Geschichte bleibt, obwohl in Grundzügen natürlich bekannt, bis zum bitteren Ende spannend. Abo Alsleben ist mit “Der letzte Punk” das Kunststück gelungen, einen spannenden und immer interessanten Roman zu schreiben, der das Leben als Punk in der DDR und die permanente Überwachung, Bedrohung und Verfolgung durch den Staat zumindest für mich Wessi gut rüberbringt und das tragische Ende des bekanntesten Punks der DDR damit etwas mehr verstehbar macht. “Der letzte Punk” gehört meiner Meinung nach in jedes gut sortierte Bücherregal, selbst wenn dort schon die Otze-Biografie “Satan, kannst du mir noch mal verzeihen” stehen sollte. Absolute Kaufempfehlung!

Info
Format: Buch
Autor: Abo Alsleben
Verlag: 04277 Books
Erhältlich für 12 Euro plus Porto bei: www.aboalsleben.de
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