Die Farbe Rot – Gerd Koenen hat eine Biografie des Kommunismus geschrieben

Interview

Nichts weniger als „Ursprünge und Geschichte des Kommunismus“ wollte Gerd Koenen nachzeichnen. Am Ende ist ein Buch mit mehr als tausend Seiten draus geworden. Das ist eigentlich nicht viel, denn immerhin zählen allein die berühmten blauen Marx-Engels-Werke mehr als vierzig Bände und immerhin beherrschten die kommunistischen Parteien für ein halbes Jahrhundert die halbe Welt. Und Koenen beschränkt sich weder auf Marx und Engels noch auf die Geschichte der realsozialistischen Staaten: Er holt weiter aus. Viel weiter. Von der Antike geht es über Aufklärung und Moderne, Revolutionen und Weltkriege bis zur Implosion der UdSSR und der postkommunistischen Gegenwart. Ob Platon mit seiner Idee eines idealen Staates oder Thomas Morus und sein „Utopia“: Kaum ein Klassiker der politischen Ideengeschichte fehlt in Koenens fröhlichem Reigen, alle werden sie in ihrem jeweiligen historischen Kontext vorgestellt und dann für den großen, rotgetränkten Erzählstrom des Buches seetauglich gemacht.

Copyright: Christoph Mukherjee

Die unglaubliche Masse an Material, die Koenen für sein Buch ausgegraben und aufbereitet hat, ist Fluch und Segen zugleich – Fluch, weil der Leser am Ende der tausend Seiten etwas ratlos mit einem qualmendem Kopf und der Erkenntnis zurückbleibt, dass alles irgendwie mit allem zusammenhängt. Ein Segen ist es, weil der Autor mit diesem Material ein wahres Füllhorn oft vergessener oder gänzlich unbekannter historischer, philosophischer und literarischer Anekdoten und Gedanken ausschüttet, aus denen wirklich jeder Leser neue Erkenntnisse gewinnen sollte.

Herr Koenen, Sie sind laut der Neuen Zürcher Zeitung einer der wenigen „68er“, die die eigene gewaltbereite Radikalität kritisch hinterfragt haben. In „Die Farbe Rot“ skizzieren Sie denkbar knapp die Parallelen zwischen den „48ern“ und den „68ern“, die beide als „Nachkriegsgeneration“ aufgewachsen seien. Die Revolution von 1848 gilt als gescheitert – eine weitere Parallele? Geben Sie zum Einstieg doch bitte eine kurze Einschätzung, was fünfzig Jahre nach 1968 von der Studentenrevolte geblieben ist und wie Sie die Gefahr einschätzen, dass die sogenannte „Neue Rechte“ in einer Roll-back-Bewegung die gesellschaftspolitischen Liberalisierungen zurücknimmt, die durch die und infolge der 68er erkämpft wurden.

Da hat die NZZ mich vielleicht etwas in eine Ecke gestellt, in der ich mich nicht sehe. Schon 2001, als ich mein Buch „Das rote Jahrzehnt“ über die Aventüren meiner Generation von politischen Aktivisten geschrieben habe, habe ich mir den Schuh des „Renegaten“ nicht anziehen wollen, den mir einige so rum oder so rum bereitgestellt hatten. Nie wäre es mir zum Beispiel in den Sinn gekommen, so wie Götz Aly eine Abrechnung mit dem eigenen „kulturrevolutionären“ Aktivismus nach 1968 unter den Titel „Unser Kampf“ zu stellen. Mein Kapitel zu den – oft trüben – generationellen Verwicklungen hieß „Felix Culpa – Vergangenheitsbewältigung als deutsche Selbstfaszination“ und war, wie das ganze Buch, eine selbstreflexive Vergegenwärtigung der komplex gemischten Motivationen der 68er-Radikalen, die es ja schließlich nicht nur in Deutschland gab.

Dieser Mix von Motivationen bringt 1968 tatsächlich in eine ferne Analogie zu 1848 und weiter gefasst, zum romantischen Radikalismus des „Vormärz“. Nur ging es Mitte des 19. Jahrhunderts um ungleich handfestere soziale, demokratische und emanzipative Motive, 1968 dagegen um viel flüchtigere, subjektivere und schon längst im Gang befindliche Entwicklungen. Insofern konnten die 68er gar nicht „scheitern“ – außer im hybriden „weltrevolutionären“ Gestus und durchaus autoritären, alles andere als liberalen Habitus seiner aktivistischen Kerne. Deshalb spielt in meiner Darstellung über Ursprünge und Geschichte des modernen Sozialismus und Kommunismus 1848 eine sehr zentrale Rolle, allein schon wegen Marx und Engels und ihrem – damals ganz randständig gebliebenen – „Manifest der Kommunistischen Partei“. 1968 dagegen spielt kaum eine Rolle. Ende der 1960er Jahre, auf halber Strecke zwischen 1945 und 1989, hat sich ein großer sozialkultureller Umbruch ereignet, der aber aus der Gesellschaft im Ganzen kam. Die sogenannten „68er“ waren vielleicht die Hefe in diesem Teig, aber weder die Heroen noch die Dämonen dieses Umbruchs.

Insofern sind die angestrengten Versuche der „Identitären“ und ähnlicher neuvölkischer Gruppen, die Rezepte der „Suberversiven Aktion“ von Anno 1964 noch mal zu imitieren und sich als die neue APO von rechts aufzuspielen, eher lächerlich; so wie auch ihre Aktiönchen wie Deutschlandfahne aufs Brandenburger Tor im Vergleich zum Womens March in Washington nach Trumps Amtseinführung oder jeder anderen großen Demo heute auf mich reichlich altbacken wirken. Und die aus der 68er-Bewegung selbst stammenden Vordenker einer intellektuellen „neuen Rechten“ wie Bernd Rabehl zum Beispiel sind letztlich doch nur Begleitmusikanten für die Höckes, Gaulands oder Weidels, für die „68“ nur ein Popanz ist, um alle missliebigen sozialkulturellen Entwicklungen seit den 1960er-Jahren irgendwie zurückzudrehen.

Die Angst vor der Weibergemeinschaft

Sie schreiben in ihrem neuen Buch, dass allein die Sozialisten über die Macht verfügt hätten, die Emanzipation der Frau zu fördern. Nicht wegen ihres Aufrufs zum Klassenkampf, sondern gerade hier, im Kampf für die Frauenrechte, seien den Kommunisten und Sozialisten auf die „tiefsten und giftigsten Antipathien“ gestoßen. Wie erklären Sie sich diese Angst vor der „Weibergemeinschaft“? Könnten hier nicht Ansätze wie der von Klaus Theweleit – der im „Roten Jahrzehnt“ ja nicht besonders gut wegkommt – überzeugende Erklärungen liefern?

Da geht mir historisch zu vieles durcheinander. Sozialisten hatten vor 1914 nur selten Macht, aber sie waren diejenige Strömung, für die es selbstverständlich war, dass die Emanzipation der Frauen, im Sinne ihrer demokratischen, sozialen und zivilen Gleichberechtigung, das natürliche Maß der allgemeinen gesellschaftlichen Emanzipation sei – was im Übrigen auch für den künftigen Sozialismus galt. August Bebels „Die Frau und der Sozialismus“ war das meistgelesene Buch der sozialistischen Parteiliteratur. Die Liberalen und die „bürgerliche Frauenbewegung“ allein hätten auf diesem Gebiet viel weniger zuwege gebracht. 1918/19 war dann der Punkt des Durchbruchs – und wieder ging die Sozialdemokratie voran. Was die konservativen Ängste und männerbündischen Phobien vor der „Weibergemeinschaft“ betrifft, parallel zur Angst vor der angeblichen „jüdischen Kommune“, hat Theweleit in seinen „Männerphantasien“ ganz sicher Wichtiges beschrieben. Sein primärer Bezugspunkt war dabei ja die Welt der deutschen Freikorps und völkischen Bewegungen um 1919/20. Dagegen galt meine Ironie im „Roten Jahrzehnt“ seiner Stilisierung unserer eigenen Generation zu späten „Verfolgten des Naziregimes“ und seiner Heroisierung von 1968 als einem herrlichen antiautoritären Frühling, der leider fast sofort von einer Invasion autoritärer Zombies im Keim erstickt worden sei. Wann war dann aber eigentlich 1968? „Ein Engel auf einer Nadelspitze“?

In Ihrem Buch „Der Russland-Komplex“ beleuchten Sie die Ambivalenz der deutsch-russischen Beziehungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Darin stellen sie heraus, dass Teile der extremen Rechten im bolschewistischen Russland einen möglichen Partner Deutschlands im Kampf gegen die westlichen Alliierten und den „Versailler Schandfrieden“ sahen. Das wiederum habe sich nicht zuletzt aus einem Misstrauen gegen westliche Liberalität und einer Bewunderung für die „slawisch-russische Seele“ gespeist. Wie beurteilen Sie, als Kenner der deutsch-russischen Geschichte, die zunehmende russische Einflussnahme in der deutschen Medienlandschaft und die teils seltsam parallel laufende Parteinahme linker wie rechter Politiker für Putins Autokratie?

Das Heil im Osten?

Es gab auf der politischen Rechten schon lange eine Ambivalenz zwischen der Bismarck’schen Politik der „Rückversicherung“ bei Russland und den alldeutschen Russophobien oder auch „Lebensraum“-Phantasien. Dazu kamen die sentimentalischen Verbindungen, die eine Art natürlicher Wahlverwandtschaft von deutschem Wesen und slawischer – letztlich immer russischer – Seele gegen einen „seelenlosen Materialismus“ und „Rationalismus“ westlicher Herkunft unterstellten. Aber entscheidend war letztlich die Perspektive einer machtpolitischen Verbindung beider Länder, welcher Art auch immer. Als sich das Zarenreich und das Deutsche Reich 1914 plötzlich direkt gegenüberstanden, betrieb die Berliner Regierung ganz offen die „Revolutionierung“ Russlands – des Russischen Vielvölkerreichs –, um den Sieg im Weltkrieg zu erringen, und suchte in dem Rahmen das Zusammenspiel mit den Revolutionären, vor allem mit Lenin, der seinerseits keine Skrupel hatte, die Angriffswucht des deutschen Imperialismus in seine Machteroberungsstrategien einzubeziehen – und das sehr erfolgreich. Der Weg vom Sonderfrieden in Brest im Februar 1918 führt dann zur Wiederanknüpfung 1919/20, vor allem mit den revisionistischen Elementen im deutschen Militär und Regierungsapparat, die sich mit dem Diktat der westlichen Sieger nicht abfinden konnten, sowie Teilen der Großindustrie oder auch den verschiedensten nationalrevolutionären Schwarmgeistern, die das Heil im „Osten“ sahen. Man kann diese Linie dann bis zum Hitler-Stalin-Pakt 1939 ausziehen.

Dass die heutige illiberale, antieuropäische, neuvölkische Rechte daran wieder anknüpfen möchte, liegt auf der Hand. Allerdings wird die Bedenkenlosigkeit, mit der sie sich zum Werkzeug der Balkanisierungsstrategie Putins macht, nur übertroffen von ihrer naiven Überschätzung der Macht und Stabilität des heutigen Russland. Helmut Schmidts spitzes Wort von der Sowjetunion als einem „Obervolta mit Raketen“ war natürlich abstrus, aber traf einen Punkt. Die Weltmacht der UdSSR beruhte auf ihrer erstaunlichen Fähigkeit, die internationalen Öffentlichkeiten entlang vorhandener Bruchlinien zu spalten und zu verwirren. Freilich war diese Sowjetpropaganda noch viel besser auszurechnen und mit ihrer braven Revolutionsrhetorik viel weniger zynisch als die jetzige russische Propagandakriegsmaschine, die auf blanke Desinformation und die Aufreizung ethnischer, religiöser, kultureller Affekte setzt, also durch und durch reaktionär wirkt.

Krisen und Katastrophen

Mit einem Umfang von über eintausend Seiten ist „Die Farbe Rot“ ein echtes Opus Magnum geworden. Nun liegt es in der Natur der Medien, dass sie sich an ein anonymes Publikum wenden. Trotzdem oder gerade deswegen muss die Frage gestellt werden, wer dieses Buch eigentlich liest: Was denken Sie, wie der typische Leser aussieht, der sich 2018, nach dem „Ende der Geschichte“, mit den Ursprüngen und der Geschichte des Kommunismus auseinandersetzt?

Das kann ich auch nach Dutzenden von Veranstaltungen nicht klar sagen. Es sind leider weniger jüngere Leser, die es anscheinend nicht mehr gewohnt sind, sich überhaupt so lange auf ein Thema und einen Text zu konzentrieren – und sich dadurch um manchen intellektuellen Genuss bringen. Die stärkste Motivation haben natürlich die Älteren, für die die Teilung in eine kommunistische und nicht-kommunistische Welt Teil ihres Lebens war. Freilich wollte ich ja zeigen, dass auch die kommunistischen Regimes des 20. Jahrhunderts, so tief sie zeitweise moralisch gesunken und am Ende auch politisch gefallen sind, keine exzentrischen Ideen irgendwelcher Schwarmgeister gewesen sind, sondern dass ihre überragenden historischen Siege von Berlin 1945 bis Saigon 1975 und ihre zeitweise globalen Attraktionen ihre Logik und Kraft aus den Krisen und Katastrophen der modern-bürgerlichen, westlichen Welt, den menschenvernichtenden Aktionen der faschistischen Mächte des Zeitalters sowie den Schrecken der kolonialen und postkolonialen Welt bezogen. Na ja, und davor liegt wieder die ganze große Geschichte der Geburt des modernen Sozialismus und das epochale Momentum der Marx’schen Theorien, aus denen ein „Marxismus“ wurde. Und das gehört wiederum in den Zusammenhang eines ganzen Zeitalters der Revolutionen und allgemeiner gefasst der modernen Welt – in der wir immer noch leben. Eigentlich interessant, oder? Für rund 12.000 Käufer meines Buchs jedenfalls als Thematik interessant genug. Mein Buch endet ja im Jahr 2017, in dem die beiden Hauptmächte des früheren Weltkommunismus, Russland und China, in unterschiedlich verwandelter Gestalt wieder die Vorderbühne des Weltpolitik darstellen, während der angebliche große Sieger von 1989, die USA, sich in destruktiver Weise isolieren und blamieren.

Chinesische Metamorphose

Sie waren von 1973 bis 1982 Mitglied des maoistisch geprägten Kommunistischen Bund Westdeutschlands (KBW). Vor diesem Hintergrund überrascht es, wie wenig Platz Sie der Entwicklung und Gegenwart Chinas in „Die Farbe Rot“ einräumen …

Ja, es ist überhaupt ein unausgewogenes Buch. Ich wollte keine zwei oder drei Bände schreiben, sondern einige große Hauptlinien ziehen. Soviel steht fest: Ohne die bolschewistische Machteroberung, die Gründung der Moskauer Internationale usw. hätte es eine KP Chinas aus eigener politischer und geistiger Tradition mit Sicherheit nicht gegeben. Und die 1949 nach Jahrzehnten eines militärisch ausgefochtenen Bürgerkriegs begründete Volksrepublik ist in vieler Hinsicht das Produkt globaler Konfrontationen, an erster Stelle der japanischen Okkupation und Verwüstung Chinas, dann des ausbrechenden „Kalten Kriegs“ – und höchstens an dritter Stelle irgendwelcher inneren Klassenkämpfe oder weltanschaulicher Massenkonversionen. Für die zähe Selbstbehauptungskraft der von Mao begründeten und mehrfach „gesäuberten“ Partei ist, durch alle kulturrevolutionären Exzesse hindurch, gerade entscheidend, dass ihr ideologisches System eine Reihe traditioneller chinesischer Lehren und Maximen mit denen eines sowjetischen, in Wahrheit stalinistischen „Marxismus-Leninismus“ verknüpft hat. So hat diese Partei dann nicht nur die demokratische Herausforderung von 1989 blutig abwehren können, sondern sie hat sich selbst zur Initiatorin und Nutznießerin eines historisch beispiellosen staatskapitalistischen Take-offs gemacht, ohne auch nur ein Jota ihrer absoluten Macht aus der Hand zu geben. Ihre Frage erinnert mich daran, dass unter allen Kürzungen auch ein Kapitel geopfert werden musste, in dem es um die ganze lange und eigentümliche Konstitution Chinas als bürokratisch organisiertes Reich und Imperium ging. Eben als dessen streng konservative Hüterin und kühn globalkapitalistisch operierende Mehrerin tritt jetzt die KP Chinas auf – eine Metamorphose des „Kommunismus“, für die uns noch alle Begriffe fehlen.

Verkürzter Marxismus

Sie schreiben, dem Marxismus sei es ergangen wie der Lehre Calvins: die Anhänger hätten sich die sakrosankten Texte für ihre Zwecke zurechtgelegt – „Kontext schlägt Text“. Machen Sie das nicht ebenfalls, wenn Sie an anderer Stelle den bekannten Schriftwechsel zwischen Marx und der russischen Revolutionärin Wera Sassulitsch thematisieren, in dem es um die Frage ging, ob Russland mittels der bäuerlichen „Dorfgemeinde“ die leidvolle kapitalistische Akkumulation überspringen und direkt den Sozialismus aufbauen könne? Was Marx antwortete, passte schließlich nicht zu seiner doktrinären Vereinnahmung durch andere russische Revolutionäre. Hätte, anders und kontrafaktisch gefragt, mit Russland alles auch ganz anders laufen können, nämlich gut?

Der Briefwechsel mit Sassulitsch zeigt zunächst nur, dass es für Marx kein fixes Schema der Entwicklung gab. Zugleich war ihm schmerzlich bewusst, wie sehr alles, was er im „Kapital“ beschrieben hatte, so nur für einen kleinen Teil der Welt gültig war, allerdings für jenen Teil der Welt, der immer zunehmend die Geschicke aller anderen bestimmte, nämlich das kapitalistische und imperiale Nordost-Europa, allenfalls noch die USA. Auch für diese entwickelten Länder waren aus seinen Schriften aber überhaupt keine eindeutigen und einheitlichen Schlussfolgerungen zu ziehen. Im dem Sinne haben schon die ersten „Marxisten“, angefangen mit Engels und den Theoretikern der deutschen Sozialdemokratie, sich ihren Marx auf eigene Faust zurechtgelegt. Die Sozialistische Internationale setzte seine Büste auf den Sockel und machte einen katechetisch verkürzten „Marxismus“ zur Leitlinie, aber alle nationalen Parteien machten ihre eigene Politik und waren intern plural verfasst. Dabei fiel schon dem alten Engels, der die größte Gefahr vor seinem Tod generell in einer sektiererischen Selbsteinkapselung sah, der doktrinäre Eifer der russischen Marxisten um Plechanow unangenehm auf. Zu Lenins Sentenz „Der Marxismus ist allmächtig, weil er wahr ist“, der einem schamanistischen Zauberspruch glich, oder zu seiner Feststellung, ohne bolschewistische Partei gäbe es überhaupt keine revolutionäre Klasse, hätte er nur den Kopf schütteln können.

Lenin sah sich selbst gar nicht als Theoretiker, sondern als Stratege und Taktiker und – in der Tradition der radikalen russischen Intelligenzija – buchstäblich als den „Kopf“ einer künftigen, alles erschütternden und umwälzenden Revolution. In all diesen Hinsichten ist er der eigentliche Begründer des modernen „Kommunismus“, so wie wir ihn im 20. Jahrhundert gekannt haben. Aber ohne die reale bolschewistische Machteroberung im Zentrum des durch Krieg und Bürgerkrieg zerrissenen Russischen Reichs hätte es diesen Kommunismus nicht gegeben. Das aber hing an einem seidenen Faden, einem ganz bestimmten historischen Moment; eben deshalb das fast wahnsinnige Drängen Lenins im Oktober 1917: Jetzt oder nie! Er hatte recht: Russland hätte einen eigenen, ganz anderen Weg gehen können – und insoweit auch die Welt im Ganzen. Aber das bleibt virtuelle Geschichte.

Selbsttätigkeit und Selbstdenken

Den letzten Teil Ihres Buches widmen Sie der postkommunistischen Situation von heute. Dort greifen Sie die Kritik am Kommunismus auf, die Sie bereits 1990 in der von Daniel Cohn-Bendit herausgegebenen Zeitschrift „Pflasterstrand“ formuliert hatten. Ein Kerngedanke von damals, der sich mehr oder weniger wortwörtlich auch in „Die Farbe Rot“ findet, lautet: „… die Errichtung kommunistischer Gesellschaften war immer und unweigerlich mit einer drastischen Senkung des längst erreichten Grades an Differenziertheit und Komplexität verbunden. Die Voraussetzung jeder Planbarkeit menschlicher Bedürfnisse ist eben ihre Reduktion – und damit zugleich die Beschneidung aller vitalen, unberechenbaren, anarchischen Triebe und Bestrebungen der Menschen.“ Dass Marx und Engels immer und einfach gegen den Realsozialismus verteidigt werden können – geschenkt! Aber nicht nur dessen Apologeten würden dem entgegenhalten, dass auch in der privatwirtschaftlich organisierten Wirtschaft geplant werden muss. Deswegen schmeckt der BigMac von der Elbe bis zum Mississippi gleich – oder etwa nicht?

Standardisierte Produkte und gesamtgesellschaftliche Planung sind aber verschiedene Dinge. Planung ist ja umso notwendiger, je komplexer und eigensinniger eine Gesellschaft ist, und findet in hundert Formen auch statt. Bürgerliche und demokratische Gesellschaften sind gerade in dieser Hinsicht von Regierungen und Zentralbehörden über die Länder bis hinunter zu Kommunen ungleich vielseitiger und flexibler organisiert als es die realsozialistischen Länder es jemals waren, wo die zentrale Planungsbehörde ja am wenigsten Ahnung hatte, was da unten passierte. Deshalb war der „reale Sozialismus“ sowjetischen Typs eine relativ primitive Kommando- und Naturalwirtschaft. Aber mein Argument ist ja viel grundsätzlicher. Es geht um die Komplexität der Gesellschaft, nicht nur die Vielfalt der materiellen Produktion, sondern der zivilen Selbsttätigkeit, um das Selbstdenken, auch das Selbstpublizieren und freie Kommunizieren – wie Polytox zum Beispiel und das Gespräch, das wir gerade führen.

Das Ende der Geschichte?

Auch Sie stellen die Frage, ob die Menschen im Marx’schen Reich der Freiheit überhaupt etwas Sinnvolles mit ihrer Zeit anfangen würden oder überhaupt nur wollten. Ihre Antwort ist eine Gegenfrage: Nämlich was von einem kapitalistischen System zu halten sei, das lieber immer neue Produkte kreiere, um sich selbst am Laufen zu halten, während zentrale gesellschaftliche Aufgaben unbearbeitet blieben. Sind wir also vielleicht doch noch nicht am Ende der Geschichte angelangt? Und falls nicht, beantworten Sie uns doch bitte zum Schluss auch die vielbesungene Frage: Sag mir, wo Du stehst …

Ob die Menschen überhaupt etwas mit ihrer Zeit – Marx’ „freie Zeit für freie Entwicklung“ – anfangen könnten, kann man fragen, aber nicht sinnvoll beantworten, solange wir in einer unter dem Imperativ der Verwertung des Werts und Produktion um der Produktion willen stehenden Gesellschaft leben. Alle sind hektisch unterwegs, fühlen sich überbeansprucht, „haben keine Zeit“ – und das, während wir statistisch immer wohlhabender werden und Produktivitätsfortschritte sich gerade in eingesparter Arbeitszeit bemessen (sollten). Das hektische Work-out oder Abhängen ist dann entweder Kompensation für die geforderte leere Effektivität an anderer Stelle, oder das Im-Netz-Dödeln, Spielen, sich Zudröhnen, Partymachen usw. ist schon eine Form, sich aus der aktiven Gesellschaft auszublenden, sich selbst überflüssig zu machen. Ich glaube nicht, dass ich naiv bin, wenn ich davon ausgehe, dass es sich um eine fatale Unter- und Überforderung zugleich der Subjekte handelt, eine Schrumpfung des Raums der sozialen Phantasie. Dabei sind viele auf ganz großartige Weise dabei, diesen Raum zu erweitern, ihre sozialen Phantasien zu realisieren. Und dabei denke ich nicht an die hochbezahlten Lemuren in den Labs von Google, die für uns die „smart cities“ und sonst eine automatisierte Zukunft entwerfen, sondern eher an die Betreiber der Projekte in alten Fabrikgebäuden, die sich an realen gesellschaftlichen Bedürfnissen orientieren und in diesem Rahmen ihre eigenen Fähigkeiten kooperativ entwickeln.

Das „Ende der Geschichte“ kann sich die Menschheit freilich jederzeit selbst bereiten, durch einen dritten Weltkrieg oder einen universellen Bürgerkrieg. Das ist alles möglich, aber kann ja wohl nur bedeuten, alles dagegen Mögliche zu tun. Ansonsten war diese Formel Fukuymas 1990 ganz zu Unrecht Hegel und Marx entlehnte, der ganz im Gegenteil davon ausging, dass wir noch immer in einer primitiven, barbarischen „Vorgeschichte“ festhängen und die eigentliche (zumindest eigentlich mögliche) „Geschichte“ der menschlichen Gattung vielleicht noch gar nicht begonnen haben, obwohl eigentlich „alles da ist“, um ein reichhaltigeres, erfüllteres, sinnvolleres Leben zu führen.

Wo ich „heute stehe“, das müssen Sie aus dem Gesagten schon selbst entnehmen und auf der politischen Landkarte einkreisen. Es deckt sich jedenfalls mit der Position keiner einzelnen Partei, falls Sie das meinen.


Der Autor

Der 1944 in Marburg geborene Gerd Koenen ist Autor und freiberuflicher Historiker. Schwerpunkt seiner Arbeit sind die deutsch-russischen Beziehungen und die Geschichte des Kommunismus.

Wie viele Angehörige seiner Generation politisierte sich auch Koenen spätestens nachdem der Student Benno Ohnesorg am Rande einer Demonstration gegen den Staatsbesuch des iranischen Schah von einem Polizisten erschossen worden war. Koenen trat zunächst dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) bei, später dem maoistisch geprägten Kommunistischen Bund Westdeutschlands (KBW).

Anfang der Achtzigerjahre distanzierte sich Koenen unter dem Eindruck der polnischen oppositionellen Gewerkschaft Solidarność zunehmend vom KBW und seiner starren kommunistischen Lehre. Seine Erfahrungen aus dieser Zeit flossen auch in das autobiografisch geprägte Buch „Das rote Jahrzehnt“ (2001) ein, das breit rezipiert und diskutiert wurde – auch weil seinerzeit die linksradikale Vergangenheit des damaligen Außenministers Joschka Fischer im Fokus der Öffentlichkeit stand.

Nachdem er Anfang der Siebziger ein erstes Promotionsvorhaben zugunsten seiner politischen Arbeit aufgegeben hatte, wurde ihm 2003 der akademische Grad eines Doktors der Philosophie verliehen. Eine überarbeitete Version seiner Doktorarbeit erschien zwei Jahre später im C.-H.-Beck-Verlag unter dem Titel „Der Russland-Komplex“ und wurde 2007 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet.

Neben seinen Büchern veröffentlichte Koenen auch Artikel im Spiegel, der Zeit und diversen Tageszeitungen.

Gerd Koenen lebt in Frankfurt – „Die Farbe Rot“ ist sein neuestes Buch.

Das Buch

Koenen, Gerd (2017): Die Farbe Rot. Ursprünge und Geschichte des Kommunismus. 1133 Seiten, C. H. Beck, ISBN 978-3-406-71426-9, 38 Euro

Zum Weiterlesen

Auch der Blog der rechtsextremen Zeitschrift „Sezession“ hat sich dem Buch gewidmet. Hier betont man, Koenen habe auch die „konservative Dimension (ur)kommunistischer Überzeugungswelten“ hervorgehoben. Außerdem räume Koenen mit der Vorstellung auf, „… die 1923er Liaison zwischen Kommunisten und Nationalisten in Deutschland sei lediglich eine temporäre Raffinesse des Komintern-Funktionärs Karl Radek gewesen.“

H.-Georg Lützenkirchen hinterfragt in seiner Besprechung, ob sich all die angeführten Ideen und Ereignisse in Koenens „Vorgeschichte“ zu Recht als Vorboten eines später unter der roten Fahne machtvoll gewordenen Kommunismus deuten ließen und betont, dass auch die ins Abseits gedrängte anarchistische Bewegung auf die gleichen Ursprünge verweisen könne:

https://literaturkritik.de/koenen-die-farbe-rot-zu-viel-geschichte,24043.html

Volltext von Koenens Doktorarbeit als PDF: Rom oder Moskau

Tilmann Ziegenhain
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