
Sobald die Meldung durch den Äther waberte, dass demnächst wieder das Runde den Weg ins Eckige finden muss, war klar, dass dies auch passieren wird. Coronavirus, Abstandsregeln, Hygienevorschriften, keine breite Unterstützung aus der Bevölkerung, etc. hin oder her, am 16. Mai musste der Zirkus wieder rollen. In erster Linie jedoch des Rubels, anstatt der Liebe des Balles wegen. Das widert mich an.
Leidenschaft Fußball
Als Teenie liebte ich Fußball. Ich trainierte klassisch mindestens zweimal pro Woche, hatte am Wochenende ein Spiel und auch sonst kickte ich gerne auf dem Schulhof oder der Straße. Selbst mitten in der Pubertät und auch noch eine Weile danach, spielte ich gerne mit allen möglichen Leuten Fußball. Über unseren überaus ambitionierten Trainer nahm ich an Turnieren im Ausland teil und erinnere mich noch sehr gerne an Trainingslager in Österreich und England. Kicken war der Hammer und ein Stück weit sogar erfolgreich – ich durfte sogar ein paar Mal für die Südwestauswahl auflaufen. Bloß die Sache mit der Sportschule hatte nicht geklappt, aber das ist eine andere Geschichte.
Gleichzeitig war ich großer Fan des 1. FCK und konnte 1991 am letzten Bundesliga-Spiel in Köln teilnehmen, weil ich aufgrund einer roten Karte gesperrt war und erlebte wie die Pfälzer erstmals nach 1953 Deutscher Meister wurden. Der 6:2 Auswärtssieg war ein wahnsinniges Erlebnis, zu dessen anschließender Feier ich mir es zwar verkniff ein Stück des Rasens zu sichern, dafür erkletterte ich einen Balkon, um mit dem ehemaligen FCKler und Weltmeister Andi Brehme Arm in Arm zu feiern. Der war extra aus Italien als Gast vor Ort.
Bald darauf endete die Zeit mit der Jugendmannschaft. Viele wechselten in andere Vereine, oder hörten gleich komplett auf, weil sie sich auf die Schule oder eine Ausbildung konzentrierten. Ich verließ den Verein ebenfalls und kickte in einer Hobbymannschaft weiter, weil mir der Sport in einer verschworenen Gruppe einfach Spaß machte. In der Zeit verlor ich immer mehr den Bezug zum professionellen Fußball. Fußball hatte für mich immer emotionalen Wert und keinen finanziellen. Es muss Mitte der Neunziger gewesen sein, als ich mich bewusst entschied dieser Leidenschaft, über meine eigene Kickerei hinaus, fast keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken. Die dritte oder vierte Auflage der Champions League trug dazu einen großen Teil bei. Sie war und ist für mich der Vorreiter des ungezügelten Kapitalismus wie ihn die Regierung Schröder Anfang der Nullerjahre mit der Agenda 2010 von der Leine ließ. Wie heute Streamingdienste das Kulturgut Musik zerschmettern, so zerschlug die Championsleague damals für mich das Bild einer der schönsten Nebensachen der Welt. Für richtige Kenner der Materie mag das schon deutlich früher gewesen sein, für mich wurde eben in der Zeit klar, dass Fußball sich ausschließlich um Kohle drehen wird.
Systemrelevante Bundesliga
Auf die momentane Situation bezogen macht mich das ziemlich sauer. Klar, Fußball mag ein riesen Geschäft sein, mit dem viel Geld erwirtschaftet wird und an dem entsprechend viele Arbeitsplätze hängen. Die Menschen, die im Stadion arbeiten, das Merchandise, die Gastronomie, die Hotels und all die anderen Berufe, die in dem Zusammenhang ausgeführt werden und ich nicht parat habe. Doch ist Fußball wirklich systemrelevant, also to big to fail? Derzeit, im Zweifelsfalle, ja das angesagte Totschlagargument?
Suggeriert wird uns das jedenfalls. Darüber hinaus soll ein angeblich schlüssiges Hygienekonzept beruhigen: Die Spiele finden ohne Fans statt, bevor sie sich vor Freude oder Frust in den Armen liegen. Die Spieler dürfen sich nach Toren nicht umarmen und auch nicht auf den Rasen spucken – Einwechselspieler müssen auf der Bank sitzend Masken tragen. Die Mannschaft wird regelmäßig getestet und begibt sich in Quarantäne. Gerade was die letzten beiden Punkte betrifft, gibt es mittlerweile genügend Beispiele wie schlecht das tatsächlich funktioniert. Ich denke von den Fällen Salomon Kalou und Heiko Herrlich hat man bereits gehört, von der Ausnahmeregelung des Union Berlins Trainer Urs Fischer vielleicht aber noch nicht. Kurz gesagt, unterbrach dieser seine Quarantäne aus privaten Gründen, verließ die Mannschaft und kehrte zu ihr zurück. Ob und was er machte ist nicht bekannt. Mir fällt dazu ein: Ausnahmen bestätigen die Regel, bzw. sind alle Menschen gleich, doch der Inner Circle des Fußball gleicher.
Sprich im Fußball werden Regeln so zurechtgebogen oder nachgebessert, bis sie passen. Der Systemrelevanz-Totschlaghammer wird’s schon richten und wer das Geld hat, hat die Macht. Ganz egal, ob sich beispielsweise die anhängenden Fußballfamilien grundsätzlich ebenfalls an die getroffenen Regelungen halten. Denn wenn man Zahnpasta und Gesichtscreme braucht, dann holt man das halt. Vorzeigefußballmensch Heiko Herrlich hat es als Trainer vorgemacht und durfte nicht mehr zur Mannschaft zurück. Wie es sich bei einem wichtigen/unverzichtbaren Spieler verhält, will ich gar nicht wissen, bzw. ob das überhaupt bekannt wird. Denn aufpassen tun die Mannschaften meines Wissens nach auf sich selbst. Selbst die Sportschau weißt auf Manipulationsmöglichkeiten hin. Zustände, die man beim IOC, der Kirche oder der Polizei immer wieder bemängelt.
Verzichtbare Menschenleben
Auf sich selbst aufpassen kann und darf aber nicht jeder, selbst, wenn die jeweilige Person das wollen würde. Beispielsweise kommen mir da Menschen in Flüchtlingsunterkünften in den Sinn. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die Menschen in solchen Einrichtungen gar nicht den Platz haben sich an vorgegebene Regeln zu halten. Weder Kontaktsperre-Regelungen, Sicherheitsabstände oder hygienische Voraussetzungen sind in dem Maße möglich wie es die verschiedenen Verordnungen verlangen. Vor Ort geht es wegen des wenigen Platzes recht wuselig zu. Schlafräume, Küchen und Bäder müssen von mehreren Menschen gleichzeitig oder nacheinander am Tag genutzt werden, ob man das nun möchte oder nicht. Leider gibt mir der aktuelle Fall aus NRW, konkret Sankt Augustin, recht. In der dortigen Zentralen Unterbringungseinrichtung sind weit über 100 Personen erkrankt. Da mag die Lobby von Wohlfahrtsverbänden, Seebrücken und sonstigen Vereinen sich noch so laut beklagen wollen, doch mit Flüchtlingen ist schlicht kein Geld zu verdienen, die kosten bloß. Dann muss man auch mal lebenswichtige Einschnitte in Kauf nehmen.
Doch glücklicherweise geben sich einige nicht einfach ihrem Schicksal hin, sondern wehren sich, indem sie vor Gericht ziehen, wie man einem Bericht der Süddeutschen entnehmen kann – ein Link, den es sich zu teilen oder weiter zu verschicken lohnt.
Ausbeutung in Deutschland
Ähnlich unterirdisch sind die Zustände in unserer Lebensmittelindustrie. Dort arbeiten entweder wieder oder immer noch Menschen, idR aus Osteuropa, unter unwürdigen Bedingungen, damit bei uns weiterhin genügend billiges Gemüse und Fleisch auf dem Teller landet.
Im Falle vom Gemüse geht es da um die Erntehelfer, die Ministerin Julia Glöckner sozusagen klar gemacht hat und von denen nicht einmal die rumänische Regierung nachvollziehen kann wie so viele Menschen über Nacht beispielsweise an den Flughafen Cluj kamen und dort selbstverständlich keinerlei Regelungen einhielten. Doch darf man nicht so naiv sein und glauben, dass sei ausschließlich jenseits der Grenze der Fall. Der Tod eines Spargelstechers bei Freiburg und ein aufschlussreicher Bericht bei Panorama dokumentieren sehr eindrücklich unter welchen Verhältnissen das reife Gemüse für Deutschland und seine Bevölkerung aus dem Boden geholt wird.
Dass sich die Fleisch verarbeitende Industrie mindestens genauso krank verhält ist nun seit ein paar Wochen ebenfalls bekannt und uns am Beispiel der Firma Westfleisch vor Augen geführt worden. In dem Arbeitsbereich werden die prekären Lebensbedingungen von Menschen ganz klassisch ausgebeutet. Wer nicht arbeitet, dem wird gekündigt. Eine Neueinstellung ist kein Problem, da es genügend Menschen gibt, die ihr Leben geben, um ein paar Kröten zu verdienen, mit denen sie ihre Familie in der Heimat ernähren können. Ausbeutung vom Allerfeinsten, nicht in Asien oder Afrika, sondern mitten in Schland. Da darf man wirklich nur hoffen, dass aus den Lippenbekenntnissen in der Fleischindustrie etwas zu ändern auch Taten folgen. Langfristig optimistisch bin ich allerdings nicht.
Ziemlich hart zu wissen, dass Lebensmittel für Menschen in Westeuropa systemrelevant sind, jedoch die Menschen die sie verbrauchsfertig produzieren nicht, weil sie unglücklicherweise im falschen Land geboren wurden!
Wer zusätzlich wissen möchte, wie außerhalb unserer Grenzen für uns unmenschlich geschuftet wird, liest den Artikel von Oxfam. Trigger: Wutanfall-Garantie.
Die Schwächsten sind die Wichtigsten
Derzeit offensichtlich auch keine vernünftige Lobby haben Kinder, die noch auf keiner weiterführenden Schule sind. Zumindest macht dies den Eindruck, wenn ich aus meinem eigenen Nähkästchen plaudere und über dessen Rand hinaus schaue.
Seit Anfang Mai werden immer mehr Beschränkungen gelockert, damit die Auswirkungen der bereits eingetretenen Wirtschaftskrise, vielleicht doch nicht so schlimm werden. Firmen beginnen wieder zielstrebiger zu arbeiten und auch allerlei Dienstleister sollen wieder frisch ans Werk, damit möglichst wenige Betriebe Pleite gehen und sich die Arbeitslosenzahlen vorerst im Rahmen halten.
Nur scheint dabei nicht wirklich berücksichtigt zu werden, dass ein nicht unbedeutender Teil dieser Menschen, die bald mehr oder minder wieder normal ranklotzen sollen, Kinder haben.
Kinder die in den meisten Fällen bis dahin bereits mindestens sechs Wochen lang daheim betreut wurden – mittlerweile befinden wir uns in Woche neun – und deren sozialen Kontakte nach außen auf ein Minimum beschränkt waren und sind, sofern sie überhaupt welche hatten. Mit oder ohne Homeschooling spielt dabei eine geringere Rolle. Was noch schwerer als schulische Inhalte wiegt, sind die psychischen Auswirkungen und jene auf das Sozialverhalten dieser kleinen heranwachsenden Menschen, während des Corona-Shut- und Lockdown.
Aus unmittelbarer und mittelbarer Nähe weiß ich von Kids, die wieder regelmäßig zu ihren Eltern ins Bett krabbeln, wieder die Hosen vollmachen oder neuerdings völlig ausklinken und auch mal die Wohnung verwüsten. Alle aus dem selben Grund: Die Gesamtsituation überfordert sie. Sicher ist das nicht der überwiegende, dennoch ein beachtlicher Teil und eigentlich auch egal, denn die Tatsache an sich ist beschissen genug!
Worauf ich hinaus möchte ist dieses Ungleichgewicht zwischen Arbeit und Kinderbetreuung. Es wirkt auf mich, als ob man Familien und Alleinerziehende, die es wegen der Kinderbetreuung nochmal deutlich schwerer haben, bei jeglicher Planung wie man in einen wirtschaftlichen Alltag zurückfinden kann, irgendwie vergessen hat. Als seien viele nicht schon von der Situation gefordert genug, wenn sie daheim Erzieher*innen oder Lehrer*innen für das Kind ersetzen müssen – ungleich anstrengender ist es für jene, die nebenbei im viel gepriesenen Homeoffice arbeiten –, so stehen jetzt viele vor der Frage, wie sie eine Betreuung überhaupt organisiert bekommen. Auch wenn ich bloß wirklichen Einblick in die Umsetzung der Schule meines Kindes habe und die Regelungen einiger anderer Bundesländer überflogen habe, so scheint es eine gemeinsamen Rahmen zu geben: Nach den individuellen Möglichkeiten der Schule. Also in Bezug auf Raumgröße, Klassengröße, Klassen pro Jahrgang, Kollegium, hygienische Voraussetzungen, etc. Wie man schnell daraus schlussfolgern kann, ich denke in bspw. keiner der 34 Grundschulen in Mannheim wird es genauso sein wie an einer anderen in der Stadt, dafür sind die Variablen viel zu individuell. In unserem Falle sind das bis zu den Pfingstferien 90 Minuten am Tag und danach eine Woche Schule und eine Woche daheim bis zu den Sommerferien. Da bin ich wirklich gespannt wie sich das die kommenden Wochen entwickelt, nachdem nämlich auch schon viele Horte, die eine Notbetreuung anbieten bereits vor der stundenweisen Schulöffnung keine freien Plätze mehr hatten. Mir ist es schleierhaft, wie das Eltern organisiert bekommen sollen, die beide arbeiten, an Alleinerziehende möchte ich da gar nicht erst denken. Stattdessen wundere ich mich, wer sich das ausgedacht hat. Da bringt einem auch eine einmalige Sonderzahlung von € 300,- nix, wie Bundesfamilienministerin Giffey nun vorschlägt, wenn man wegen dieser nicht zu Ende gedachten Herangehensweise arbeitslos wird. Ich finde das vielmehr eine Beleidigung.
Außer der traurigen psychischen und sozialen Situation sowie superschrägen neuen Alltagsorganisation stellen sich natürlich gleich weitere Fragen: wie hält man die Lücke zwischen weniger fitten und fitten Schüler*innen möglichst gering, was macht man mit Schüler*innen mit Sprachproblemen, wie erreicht man Kids aus bildungsfernen Familien und kann diese unterstützen, wie gewährleistet man digitale Unterstützungsangebote für alle, usw. usf.
Insgesamt finde ich das eine phänomenale Sauerei, wenn man bedenkt, dass hier zig Jahrgänge für eine völlig vergeigte Bildungspolitik büßen, von der man schon seit langen Jahren weiß, dass sie immer mieser wird – den nicht vorhandenen digitalen Wandel mit einbezogen. Das ist investives Vollversagen auf verschiedenen Ebenen (psychisch, sozial, moralisch, schulisch, etc.) bei der wichtigsten und schwächsten Menschengruppe überhaupt!
Fuck Neo-Feudalismus
Insgesamt sind dabei für mich zwei Punkte festzuhalten. Erstens wird mal wieder deutlich, dass die, die Geld haben, sich ihre vermeintliche Sicherheit einfach erkaufen können und die Argumentation mit angeblicher Systemrelevanz von der Politik bestätigt bekommen. Zweitens, dass Gruppen ohne einflussreiche Lobby ganz schön dumm aus der Wäsche gucken, weil man sie teilweise, wenn nicht sogar komplett, sich selbst überlässt.
Schland, einmal mehr überzeugst du mich so gar nicht, mit deinem Neofeudalistischem System.
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