
Jens Rachut hat es wieder getan. Er hat eine neue Band oder zumindest ein neues Bandprojekt ins Leben gerufen. Und um überhaupt keinen falschen Eindruck aufkommen zu lassen: Das ist super so!
Jens Rachut ist künstlerisch vermutlich eine der einflussreichsten Personen im deutschsprachigen Punkrock. Seit er in den frühen 1980er-Jahren mit Angeschissen und Das Moor die Bühne betrat, hat er mit seiner Art zu texten und zu singen, zahlreiche Bands beeinflusst. Muff Potter, Turbostaat, Love A, Pascow, Duesenjaeger – nur um die zurzeit bekanntesten zu nennen – würden wohl anders klingen (oder vielleicht in der Form gar nicht existieren), wenn es zuvor nicht Blumen am Arsch der Hölle, Dackelblut oder Oma Hans gegeben hätte.
Konsequente Verweigerungshaltung
Aber es ist nicht nur sein künstlerischer Einfluss, der ihn von vielen Punkrockgrößen aus den 80er Jahren abhebt, sondern auch seine Einstellung zu Punk und zur Kunst und seine Konsequenz daraus. Die Neugier auf Neues, die Lust auf Veränderung, sie scheint bei Jens Rachut ungebrochen. Er könnte es sich einfach machen und alle zwei, drei Jahre unter dem Namen Dackelblut (oder einem anderen seiner zahlreichen Bands) ein neues, mittelmäßiges Album veröffentlichen, auf Tour gehen und jeweils im letzten Konzertdrittel die Hits der frühen Jahre spielen auf die das Publikum so sehnsüchtig wartet. Doch dieses Rolling Stones-Verhalten ist nicht sein Ding. Stattdessen hat jede seiner Bands eine Halbwertszeit von einer Handvoll von Jahren und dann muss etwas Neues her. Und auch musikalisch traut sich Rachut immer wieder über den musikalischen Szenerand hinaus.
Die ersten Kommando Sonne-nmilch-Alben waren sehr experimentell und für den Scheuklappen-Punk sicher befremdlich, nicht viel anders dürfte es vermutlich mit Nuclear Raped Timebomb gewesen sein. Und auch Rachuts jüngste Band, Alte Sau, die komplett auf Gitarren verzichtet, sind nicht jedermanns Sache. Und jetzt also Maulgruppe, Rachuts aktuelles Bandprojekt (oder Band?).Hierfür hat er sich mit denen von mir sehr geschätzten Yass bzw. Ten Volt Shock zusammengetan. Das Resultat ist wie erwartet großartig. Pulsierender, dichter und treibender Noise-Punk trifft auf Rachuts Stimme und Texte.
Fiebrig-frickelnde Elektrobeats
Jens Rachut zeigt dabei mal wieder was ihn als Texter so besonders macht. Einerseits so direkt zu sein, das bei den meisten Texten halbwegs klar ist, um was es geht, sich dafür aber Sprachbilder zu bedienen, die noch nicht abgegriffen sind und immer noch Raum zur Spekulation und Interpretation lassen. Thematisch geht es um die Oberflächlichkeiten sozialer Netzwerke (“Tinderbaby”), die Elbphilharmonie (“Das Volk”), mal wieder die Reaktorkatastrophe Tschernobyl (“Tiere in Tschernobyl”), das Älterwerden und das häufig damit verbundene in der Vergangenheit schwelgen (“Geh zum Arzt Du Affe”) oder Depression (“Selbstmitleid trinken”). Eingebettet werden die Texte von mal fiebrig-frickelnden, dann wieder düster-monotonen Elektrobeats und Synthiklängen, schweren Gitarrensounds und einem unerbittlich nach vorne peitschenden Schlagzeug.
Die elf Lieder auf “Tiere in Tschernobyl” sind ein schräger, nicht immer leicht verdaulicher, aber letztendlich großartiger musikalischer Ausflug. Ich hoffe, Maulgruppe wird nicht nur ein einmaliges Bandprojekt bleiben, sondern sich in die imposante Reihe der Rachutschen Bandhistorie einreihen. “Tiere in Tschernobyl” ist ein wahnsinnig gutes Album geworden!
Info

Format: LP/CD
Label: Major Label
Band Website: Facebook
Label Website: http://www.majorlabel.de/
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